Künstliche Intelligenz ist keine Zukunftsmusik
Innovation 03.06.2020 4 Min.
Künstliche Intelligenz ist keine Zukunftsmusik.

Im Interview mit der Zeitung DIE WELT spricht Michael Würtenberger, Leiter des Project AI bei der BMW Group über Künstliche Intelligenz und darüber, wie die Schlüsseltechnologie schon heute im Unternehmen zum Einsatz kommt. 

WELT
Herr Würtenberger, die Corona-Krise zwingt viele Autohersteller zu strengen Sparmaßnahmen. Ist Ihr „Project AI“ bei BMW davon betroffen?

MICHAEL WÜRTENBERGER
Nein, KI ist bei uns frühzeitig als Schlüsseltechnologie der digitalen Transformation erkannt worden. Bei so einem wichtigen Thema dürfen und wollen wir die Fortentwicklung nicht beschränken.

WELT
Der Einsatz von KI spielt eine zentrale Rolle bei der digitalen Transformation. Der Kapitalbedarf ist immens. Aber Geld allein reicht nicht aus. Von großer Wichtigkeit bei diesem vielschichtigen Prozess ist die Qualifikation der Mitarbeiter und zunächst überhaupt auch ihre Verfügbarkeit. Es herrscht ein großer Mangel an IT-Fachkräften…

MICHAEL WÜRTENBERGER
Für BMW als Technologieunternehmen ist die Kompetenz der Mitarbeiter von entscheidender Bedeutung. Wir müssen hochqualifizierte Menschen für BMW gewinnen und dann auch halten, indem wir ihnen attraktive Rahmenbedingungen bieten, von der guten Zusammenarbeit bis zur Unternehmenskultur. Gleichzeitig ist die Befähigung unserer eigenen Mitarbeiter eine wichtige Aufgabe. Die sogenannte digitale Welt unterscheidet sich ein wenig von jener des traditionellen Maschinenbaus. Wir versuchen, diese beiden Welten miteinander in Einklang zu bringen. Wir verfügen mit dem Automobil über ein einerseits sehr klassisches, andererseits aber mittlerweile auch stark digitalisiertes und hochkomplexes Kernprodukt. Gleiches gilt für seine Herstellung. Weder die eine noch die andere Seite kann heute noch für sich allein funktionieren. Deshalb ist die Vernetzung innerhalb unseres Unternehmens ebenso wichtig wie zu anderen Firmen.

WELT
Fahrzeugtechniker mit Schwerpunkt Verbrennungsmotoren müssen die Sprache der Netzwerkadministratoren und Programmentwickler sprechen – und umgekehrt.

MICHAEL WÜRTENBERGER
Ja, sie sollten auf Augenhöhe miteinander reden können. Das ist wichtig. Bei der digitalen Transformation müssen sich die Informatiker und Maschinenbauer gleichberechtigt begegnen. Das muss man lernen, das muss man kultivieren, und damit muss man umgehen können. Das betrifft nicht nur Mitarbeiter, sondern sehr stark auch die Führungskräfte.

WELT
Sie konkurrieren um die begehrten IT-Experten mit den großen Technik- und Internetkonzernen. Was können Sie beim „Project AI“ den Leuten bereitstellen, was ihnen Google oder Amazon nicht bieten können?

MICHAEL WÜRTENBERGER
Reale Aufgaben, die man bei Erfolg in physischen, sehr emotionalen Produkten in Serie bringen kann! Wir beschäftigen uns nicht nur mit Konzepten, sondern mit konkreten Herausforderungen, wie wir mit KI-Technologien wie natürliches Sprachverstehen, Computer Vision, maschinelles Lernen und vielen mehr ein besseres Produkt zum Kunden bringen. Es ist schon spannend, wenn man ein Problem in drei Jahren lösen muss, um es dann den Kunden anbieten zu können.

WELT
KI gilt als Schlüsseltechnologie der deutschen Schlüsselindustrie, der Fahrzeugherstellung. Wie ist KI in der BMW Group organisatorisch verankert?

MICHAEL WÜRTENBERGER
KI spielt von der Fertigung bis zum Fahrzeug selbst fast überall eine Rolle. Deshalb haben wir organisatorisch eine Speichenarchitektur entwickelt. Das „Project AI“ bildet die Nabe und die einzelnen Fachbereiche die Speichen. Damit schaffen wir Transparenz und schnellen, effizienten Wissenstransfer. KI kann vieles, aber ihre Anwendung im realen Prozess erfordert sehr viel Wissen und Erfahrung der Mitarbeiter an lokaler Stelle. Deshalb haben wir diese weitgehend dezentrale Form der Vernetzung gewählt.

[…]

WELT
Sie arbeiten auch an der Vereinfachung der Wechselbeziehung zwischen Mensch und Maschine.

MICHAEL WÜRTENBERGER
Vereinfachung kann geschehen, indem wir ein Fahrzeug zum Beispiel auf individuelle Weise vorkonditionieren. Es soll erkennen, wer es nutzt, welche Musik, Innenraumbeleuchtung oder Sitzposition die Person bevorzugt. Wir wollen komplexe Bedienungen einfach gestalten: Wenn das System weiß, dass Sie in die Stadt zum Einkaufen fahren, leitet es sie rechtzeitig zu einem Parkplatz und berücksichtigt dabei unter Umständen auch, ob es regnet, ob Sie jemand sind, der für ein Parkhaus bezahlt, oder ob Sie die letzten 500 Meter gerne zu Fuß gehen und vorher noch einen Kaffee trinken möchten. Wenn das mithilfe von KI ganz einfach funktioniert, werden Sie wahrscheinlich sagen: Hey, das war ja irgendwie ein cooles Erlebnis!

Künstliche Intelligenz ist keine Zukunftsmusik
Künstliche Intelligenz ist keine Zukunftsmusik

WELT
Vor allem in der Fertigung spielt KI bereits eine wichtige Rolle.

MICHAEL WÜRTENBERGER
Wir setzen KI etwa bei der Qualitätssicherung ein. Wenn wir Lackierungen oder Schweißnähte prüfen, ist KI der klassischen Bildverarbeitung klar überlegen. Es gibt immer mehr Bereiche, wo man komplexere Dinge mit herkömmlicher Automatisierung regelbasiert nicht mehr darstellen kann. Hier erlaubt KI robustere Lösungen. Robustheit ist eigentlich das Thema.

WELT
Können Sie die Produktivitätszuwächse durch KI beziffern?

MICHAEL WÜRTENBERGER
Das lässt sich pauschal nicht beantworten. Wir haben für über 400 verschiedene KI- und datengetriebene Anwendungen eine positive Machbarkeit belegt. Der Produktivitätszuwachs kann ein paar Prozentpunkte betragen, aber manchmal auch sehr viel mehr.

WELT
Viele Menschen haben Sorge, dass der Einsatz von KI ihren Arbeitsplatz gefährdet.

MICHAEL WÜRTENBERGER
Bei uns ist dies nicht der Fall. Wir erleben sehr viel Unterstützung von der Mitarbeiterseite, weil wir Dinge automatisieren, die sehr repetitiv oder mühevoll waren. Es geht ja nicht darum, Menschen durch Maschinen zu ersetzen, sondern darum, Menschen zu entlasten. Durch den Einsatz von KI haben wir uns bei BMW bis heute von keinem einzigen Mitarbeiter getrennt.

WELT
Die Entwicklung von KI-Anwendungen ist kompliziert und teuer. Arbeiten Autohersteller hier in irgendeiner Weise zusammen, um Zeit und Geld zu sparen?

MICHAEL WÜRTENBERGER
Bei der Produktentwicklung legen wir hohen Wert darauf, Kernkompetenzen auf- und auszubauen, um intelligente Produkte mit technologischen Alleinstellungsmerkmalen selbst entwickeln zu können. Klar ist aber auch: Kooperationen sind an vielen Stellen sinnvoll. Beispielsweise arbeiten wir in der VDA-Leitinitiative Autonomes und vernetztes Fahren unter anderem mit Daimler zusammen, insbesondere um die Standardisierung von KI-Anwendungen voranzutreiben. Darüber hinaus aber werden viele KI-Basisbestandteile über die Plattformen von Tech-Unternehmen genutzt wie Microsoft, Google oder Amazon. Und schließlich fahren wir auch einen Open-Source-Ansatz bei den KI-Algorithmen, die wir im Herbst 2019 auf der Plattform Github veröffentlicht haben. Wir suchen hier bewusst den engen Schulterschluss mit der IT und der KI-Community, um die Algorithmen weiterzuentwickeln, auf denen unsere Anwendungen beruhen. Dies ist sehr hilfreich. Unser ausdrückliches Ziel ist es, die Nutzung der KI so einfach wie möglich zu gestalten, damit alle Mitarbeiter in der Lage sind, ein für ihre Zwecke ideales KI-Instrument sozusagen aus einem digitalen Werkzeugbaukasten zu wählen.

WELT
Wo stehen die deutschen Autohersteller bei der KI-Nutzung im internationalen Wettbewerb?

MICHAEL WÜRTENBERGER
Ich denke schon, dass wir sehr gut unterwegs sind. Ich bin ein Mensch, der eher unruhig ist, ich würde gerne immer mehr machen. Mit der Geschwindigkeit der Realisierung bin ich aber überwiegend zufrieden. Schneller geht immer, aber man darf nicht vergessen: Alles, was Sie in der Technologie vorantreiben, muss letztendlich bei unseren Kunden und unseren Mitarbeitern ankommen – und hinterher auch einen Return of Invest bei BMW liefern.

WELT
Die Autoindustrie steht vor dem größten Umbruch ihrer Geschichte, der digitalen Transformation kommt eine wesentliche Bedeutung zu. Kurzum, Sie arbeiten am größten Ding, das es zurzeit in der Autoindustrie gibt. Beim autonomen Fahren geht es um den Eintrag in die Geschichtsbücher.

MICHAEL WÜRTENBERGER
Wir befinden uns in einer herausfordernden Zeit, ja. Aber die Tatsache, dass wir ganz vorne dabei sind, ganz vorne mitmachen, um etwas Großes zu schaffen, treibt uns bei BMW, meine Mitarbeiter und mich persönlich an. Was kann es denn Besseres geben, als an der Zukunft zu arbeiten? Vergangenheit kann jeder, Zukunft motiviert enorm.

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